Kleines, scharfes Auge

Hans Zappe entwickelt eine automatische und autonome Mikrokamera mit chemischen Muskeln, die zum Beispiel bei Endoskopen zum Einsatz kommen kann

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Ohne Drähte, Kontroller und Steuerelemente: In spätestens zwei Jahren will Hans Zappe einen Prototyp der Mikrokamera demonstrieren. Foto: Harald Neumann

Freiburg, 08.06.2020

Dressierte Muskelmoleküle: Im Exzellenzcluster livMatS – Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems bringt Prof. Dr. Hans Zappe bestimmten Verbindungen bei, sich in eine bestimmte Richtung zu strecken und zu verkürzen. Weil sie das können, heißen sie in abgekürzter Form LCE. Das sind formveränderliche flüssigkristalline Polymernetzwerke – oft auch Mikromuskeln genannt. Zappe will damit autonome, vollautomatische Mikrokameras bauen, etwa für den Einsatz in Endoskopen. Das Material soll Energie ernten und gleichzeitig alle Aufgaben übernehmen, die Lichtsensoren, Steuereinheiten und Motoren in üblichen Kameras haben.

Künstliche Augen in der Größe eines Streichholzkopfs: So etwas schwebt Hans Zappe vor. „Das System soll sich automatisch an veränderliche Lichtgegebenheiten anpassen und fokussieren können“, erklärt der Leiter der Gisela-und-Erwin-Sick Professur für Mikrooptik am Institut für Mikrosystemtechnik (IMTEK) der Universität Freiburg. Blende und Brennweite müssen sich wie bei modernen Kameras von selbst einstellen. Die brauchen dafür Lichtsensoren, Steuereinheiten, Motoren und Energie. „Wir integrieren alle diese Fähigkeiten in das Material“, sagt Zappe. Sein Team verwendet für das livMatS-Projekt formveränderliche flüssigkristalline Polymernetzwerke, auf Englisch „liquid crystalline elastomeres“, kurz LCE. Sie können sich zusammenziehen wie Mikromuskeln.

Kein Gegenspieler erforderlich

Muskeln steuern am menschlichen Auge, wie viel Licht die Iris durchlässt. „Je nach Helligkeit geht sie auf oder zu“, erinnert Zappe an Biologie-Schulwissen. Ist es hell, verengt ein Muskel die ringförmige Iris und ihre zentrale Öffnung. Wird es dunkler, zieht der Gegenspieler, ein fächerförmiger Muskel, die Iris auseinander. Nach diesem Prinzip funktionieren auch die mechanischen Aperturblenden herkömmlicher Kameras. Die sind Zappe aber zu groß: „Wir planen ein stark miniaturisiertes System.“ Seine LCE-Blende soll Teil von winzigen, autonomen Kamerasystemen werden. Die bieten sich überall an, wo Platznot herrscht – für Roboter, Satelliten und besonders für Endoskope. Damit schauen sich Ärztinnen und Ärzte teils extrem enge Hohlräume des Körpers von innen an. Diese medizinischen „Augen“ müssen klitzeklein sein.

Zappes Team baut die Iris mit LCE-Molekülen im Miniaturformat nach. Den Forschenden genügt ein chemisches Mikromuskelsystem. LCE brauchen keine Gegenspieler: Im Unterschied zu echten Muskeln können sie sich aktiv zusammenziehen und strecken. Das geschieht, wenn LCE ihren Zustand wechseln. Bei dem einen schauen die Flüssigkristall-Molekülketten chaotisch zu allen Seiten, beim anderen gucken alle wohlgeordnet nur in eine Richtung. Dabei verkürzen sich LCE, wenn der Zustand von chaotisch in geordnet übergeht. Umgekehrt, von geordnet nach chaotisch strecken sie sich wieder bis maximal zur Ausgangslänge, erklärt Zappe: „Zwischen beiden Zuständen ändert sich die Länge um bis zu 50 Prozent.“

Die Richtung des Schrumpfens festlegen

Den Übergang bewirkt Energie, etwa in Form von Wärme. Zudem lässt sich damit aber auch dirigieren, wie sich die LCE-Flüssigkristalle ausrichten. „So können wir die Richtung ihres Schrumpfens und Streckens festlegen“, erklärt Zappe. Das demonstriert sein Doktorand, Yannick Folwill, an Glasplättchen. Darauf sind durch einen Polarisationsfilter dreieckige, sternartige und tortenstückähnliche Felder zu erkennen: gleichmäßige Strukturen durch ausgerichtete Flüssigkristalle. Folwill hat eine Seite der Glasplättchen dünn mit LCE beschichtet und sie unterschiedlich mit Wärme bestrahlt. Er kann die Richtung der Flüssigkristalle auf knapp einen hundertstel Millimeter genau einstellen.

In der Blende nach Iris-Vorbild, die Zappe plant, werden die LCE radial angeordnet sein: Sie gehen strahlenartig von einem Mittelpunkt aus. Erwärmen und Abkühlen verengt oder weitet dann die Öffnung in ihrem Zentrum. „Damit haben wir ein variables Loch nach dem Iris-Prinzip“, so der Mikrosystemtechniker. Thermisch funktioniere das wunderbar. Doch für viele Anwendungen wären andere Energiequellen wie Licht besser geeignet. Im einfachsten Fall, so Zappe, müssten die Flüssigkristalle der LCE nur Licht absorbieren und daraus Wärme erzeugen: „Das wäre genau das Gleiche wie eine thermische Aktivierung.“

Oft lauern die Tücken aber im Detail. Davon kann Zappes Doktorandin Jasleen Kaur Lall berichten: Sie beschichtet kleine Stückchen brauner Kunststofffolie beidseitig mit lichtempfindlichen LCE. Bestens ausgerichtet sollten sich unter Licht nur die Flüssigkristalle auf einer Seite zusammenziehen, die LCE auf der anderen Seite strecken. Ihre Träger, also die braunen Folienstückchen, würden sich in die gewünschte Richtung krümmen. Kaur Lall zeigt ein Schälchen mit gebogenen Kunststoffschnipseln. Die sind gekrümmt: u-förmig, s-förmig, leicht verdreht. „Leider bewegen sich die LCE hier ungewöhnlich“, erklärt Zappe, „Ihre Richtung können wir noch nicht perfekt kontrollieren.“ Doch Doktorandin Kaur Lall ist daran, die bisher planlose Biegefreudigkeit der LCE in gewünschte Bahnen zu lenken.

Prototyp in zwei Jahren

„Wir betreten da Neuland“, hebt Zappe hervor. „Mit den Versuchen zu einem anderen Energieeintrag in LCE als Wärme befinden wir uns an vorderster Forschungsfront.“ Schwierig seien schon die Herstellungstechnik, die Physik und Chemie der Flüssigkristalle. Für Letztere ist die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Jürgen Rühe am IMTEK zuständig. „Er betreut die gesamte chemische Seite“, sagt Zappe, „da lassen sich schon verschiedene Eigenschaften der Systeme einstellen.“ Zappes Arbeitsgruppe kümmert sich um die LCE-Strukturen und -Bauelemente. „Da tauchen im Mikrobereich immer wieder neue Herausforderungen auf“, so der Forscher. Dennoch hofft er, in spätestens zwei Jahren einen Prototyp vorführen zu können.

Zappes zweite Kooperation im Exzellenzcluster entwickelt eine selbstausrichtende Solarzelle: „Sie dreht sich immer dorthin, woher das Licht gerade kommt.“ In anderen Projekten forscht sein Team an weiteren adaptiven optischen Systemen, zum Beispiel an solchen für Flüssigkeiten. Die Mikrokamera mit LCE-Auge bezeichnet Zappe eher als „Nebenaktivität“. Aber er verbindet damit zwei Wünsche: „Wir wollen zum ersten Mal ein energieautonomes, adaptives, künstliches Mikromuskelsystem demonstrieren können – ohne Drähte, Kontroller und Steuerelemente.“ Bei dauernd wechselnden Lichtbedingungen soll die Mikrokamera ständig scharfe Bilder liefern. Wunsch Nummer zwei ist eine konkrete Anwendung. „Wir haben viele Projekte zusammen mit der Uniklinik. Ich wäre sehr daran interessiert, für Endoskope eine komplett autonome Mikrokamera zu bauen, die sich ständig an die wechselnden Gegebenheiten im Körper anpasst und automatisch fokussiert.“

Jürgen Schickinger

 

livMatS – Living, Adaptive and Energy-autonomous Materials Systems

livMatS ist einer der beiden Exzellenzcluster der Universität Freiburg. Darin entwickeln 25 Arbeitsgruppen bioinspirierte Materialsysteme, die sich autonom an unterschiedliche Umgebungen anpassen und saubere Energie aus ihrer Umgebung ernten. Weitere Gruppen werden hinzukommen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen aus sechs Fakultäten – der Technischen Fakultät, der Fakultät für Chemie und Pharmazie, der Fakultät für Biologie, der Fakultät für Mathematik und Physik, der Fakultät für Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaften und der Philosophischen Fakultät. Auch die Fraunhofer-Institute für Solare Energiesysteme ISE und für Werkstoffmechanik IWM sowie das Ökoinstitut e.V. sind beteiligt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert den Cluster von Anfang 2019 bis Ende 2025.

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